„Ist es nicht wunderbar, daß die Begierde das Vermögen um so viele Jahre überlebt?“

William Shakespeare (1564 – 1616)

Als der Zweite der Weltkriege vorbei war

Als ich in Leipzig auf die Welt kam, war der Zweite der Weltkriege gerade vorbei. Europa stand in Trümmern. Die Zukunft war auf den Tag beschränkt. Auf die nächste aufgesparte Scheibe Brot, gebacken aus mehr Sägespane als Mehl. Millimeterdünn geschnitten. In Kaffeesatz geröstet. Kartoffelschalen. Zu Brei verkocht. Graupen in Wasser. Linsen in Wasser waren Luxus. Milch gab es nicht, aber meine Tante trieb Hafermehl auf. Ein Arbeitskollege gab ihr Harzerkäse gegen Damasttischdecken. Tante Elisabeth hatte die Silberbestecke ausgegraben und tauschte sie nach und nach um in Zucker, Fette. Kartoffeln. Einmal ergatterte sie Reis und Kakao. So lernte ich als Kind nach den Sägespänen auch Grieben und Harzerkäse zu essen. Selten winzige Speckstücke. Immer alles langsam kauen.
Die weißen Rosenbüsche in der Idastraße blühten im Sommer 1945. Im Winter erfroren die meisten der Stöcke. Im Hungerwinter von sechsundvierzig auf 1947 war an Weihnachten nicht zu denken. Meine Tante legte die schönste und größte der Damastdecken auf den Tisch und erzählte, wie in den guten Zeiten alle zum Schabbat, zu Weihnachten zusammenkamen. Vor 1940, bevor fast alle der großen Leipziger-Berliner Familie aus Deutschland geflohen waren. Nach England, in die Vereinigten Staaten, nach Kanada, Frankreich, in die Niederlande, nach Italien. Ein Onkel landete bei dem Fliehen vor den Deutschen in Burma und heiratete eine Prinzessin, dann kamen die Japaner und sie flohen weiter nach Macau.
Weißt du noch, damals an den Freitagabenden als alle an dem großen Tisch saßen, durcheinanderredeten und lachten, die Brüder über Politik stritten, damals als alle noch in Leipzig und Berlin waren. Wie sie alle Pläne hatten, was sie werden wollten. Damals in der Idastraße. Aber daraus wurde nichts. Eine der großen Tischdecken aus Damast habe ich noch. Um sie für den großen Tisch in unserem Haus zu nutzen, muss sie in der Länge und Breite auf die Hälfte gefaltet werden. Zu Weihnachten. So wird einmal im Jahr an meinem Tisch an eine andere Gesellschaft gedacht. Deutschland, wie es nicht werden konnte. Deutschland, wie es sich um Zukunft, Wissen und Gefühle brachte.
In den guten Zeiten saßen an dem großen Tisch in Leipzig sechszehn und mehr Menschen, verwandt, verlobt. Sie aßen, lachten, redeten, schmiedeten Zukunftspläne. Sie hatten alle noch so viel vor und meine Großeltern bestärkten sie. 1940 im Sommer gab es nur noch meine Großeltern und die Jüngste, meine Mutter. Die großen Feste waren vorbei. Die Großeltern starben, meine Mutter verschwand, sie wurde unsichtbar.
Nach den eiskalten Hungerwintern gab es das erste Weihnachten, das ich erinnere. Der allererste Adventskalender meines Lebens. Tante Lisbeth hatte eine Schnur, an der sie Streichholzschachteln festband, im Esszimmer an einen Tannenzweig gehängt. Vierundzwanzig Mal schnitt ich eines der bunt beklebten Kistchen ab, zog sie auf und erlebte eine Überraschung: eine Walnuss. Eine Rosine. Einen goldenen Stern. Eine kleine Silberkette. Nach der vierundzwanzigsten Schachtel war Chanukka vorbei und es war Weihnachten. Tante Lisbeth lachte gerne. Und Onkel Jacob erzählte Geschichten aus der Welt. Das war schön. Das war noch in Leipzig. Die Stadt, aus der ab 1933 außer meinen Großeltern und meine Mutter alle geflüchtet waren, um wenigstens ihre Leben zu retten. Manche kamen zurück, um einige Jahre später noch einmal ihre Heimat verlassen zu müssen. Tante Lisbeth und Onkel Jacob verpassten den Zeitpunkt. Beide waren sofort nach Kriegsende aus Liverpool zurück nach Leipzig gekommen. Zurück in ihre Heimat, die zum Gefängnis wurde. Sie durften nur je einmal getrennt ausreisen. Onkel Jacob im Sommer, Tante Lisbeth zu einem Weihnachtsfest. Sie wollten weg, aber nicht allein.
In meiner Kindheit war oft vom Festhalten des Augenblicks die Rede. Wortwörtlich. So ein Tag, so schön wie heute, der dürfte nie vergehen. Wurde gesungen, gemeint war diese Sekunde und dieser eine Blick. Das war der Wunsch, als die schlimmsten Zeiten, die Kälte, der Hunger überstanden, die Zonen getrennt waren. Nicht erinnern und nicht planen. Der erste Schaumwein. Trinken. Die erste Schokolade. Aufreißen und essen. Nylonstrümpfe. Ein Ei. Roh oder gekocht. Verschlingen. Eine fette Leberwurst. Fingerdick aufs Brot schmieren. Endlich. Die Währungsreform im Westen hatte auch in der Ostzone die Schaufenster für ein paar Tage mit Waren gefüllt. Harte Kastenbrote. Graue Leberwurst. Grieben. Kartoffeln. Klumpiges Mehl. Bleiche Nudeln. Der Laden meiner Großmutter stand immer noch leer. Aber es ging vorwärts. Mit roten Fahnen und neuen Bonzen.
Meine Mutter und ich flüchteten aus der DDR 1952, mit zwei Rucksäcken, einer Handtasche und einem großen Holzkoffer. Bei Nacht und Schnee in die Tschechoslowakei. Mit Zügen, ohne Fahrkarten und Papiere. Ohne Zuzugsgenehmigungen für irgendeine der Zonen. Weiter nach Bayern ins Lager Moschendorf. Bis Kriegsende ein KZ. Meine Mutter hielt die Menschen, den Dreck, die Enge nicht aus. „Keine Lager, keinen Schmutz mehr“, sagte meine Mutter. Sie war einige Monate in einem der Lager gefangen gewesen. Wir flüchteten weiter bis an den Bodensee. Ein Buchhändler floh mit uns. Er hatte in Leipzig seine Lehre als Buchhändler absolviert. Er floh nach Hause. Friedrichshafen. Blick auf den Säntis. Bei klarem Wetter.
Als ich den Berg, den Säntis mit seiner weißen Mütze, das erste Mal sah, wusste ich seinen Namen nicht und auch nicht, dass am anderen Ufer die zugesperrte Schweiz lag und dass es dort Dinge gab, die ich noch nie im Leben zuvor gesehen, geschmeckt und gerochen hatte: Schokolade, Orangen, Bananen, Milch, Kakao und Marzipankuchen. Nugat. Schoggi. Ich wusste auch nicht, dass es hinter diesen weißen Bergen noch sehr viel mehr Welt gab.
Was hatten wir aus Leipzig mitgebracht? Was war in dem Holzkoffer? Eine Damasttischdecke, Silberbestecke, Papiere zum Besitz des Hauses in Leipzig. Kleidung. Großvaters Säbel. Großvaters Sattlerwerkzeuge. Großvaters Taschenuhr und sein Seidenschal. Abtrockentücher aus Großmutters Bestand, bestickt und noch unbenutzt. Einige Fotoalben. Eine Pelzstola. Eine Lederetui mit einer silbernen Schere und einem silbernen Fingerhut. Ein merkwürdiges Sammelsurium.
Als Kind fragte ich die Verwandten oft, was war in deinem Koffer? Die nach England geflüchteten Blumenthals landeten ohne Gepäck in Liverpool, ihnen waren nur die Rucksäcke und zwei Aktentaschen geblieben. Die meisten gingen unauffällig mit zweifach angezogener Kleidung, Handtaschen und Rucksäcken. Niemand wollte erkennbar über die deutschen Grenzen, nur Verwandte, Freunde in der Nähe besuchen. Nur ein Ausflug. Die Zugfahrten waren sorgfältig bedacht und verliefen selten wie geplant. Da standen Gestapomänner auf dem Bahnsteig, da durchsuchte die SS einen Zug. Oder andere Reisende wurden abgeführt. Lieber noch einmal im Kreis fahren. Und auch wer die Genehmigung für eine Ausreise hatte, verhielt sich unauffällig. Ein kleiner Koffer. Besitz und Geld musste mit Hilfe anderer gerettet oder als verloren ausgebucht werden in der Lebensbilanz. Millionen Mal musste die Existenz, alle Gefühle, Wissen und Können, alles Leben ausgebucht werden. Keinen Hut mehr zum Ziehen, Kein Lächeln. Kein Guten Tag der Nachbarn mehr. Keine Luft mehr zum Atmen.
Meine Mutter und ich kamen über alle Zonengrenzen bis an den Bodensee und fanden einen Unterschlupf in der Drachenstation, direkt an der zerstörten Ufermauer gelegen. Ein neuer Lebensroman. Der Sinn war zu leben. Nach dem Überleben. In der Fremde zu leben.
Vor der ehemaligen Wetterstation bogen sich Bahngleise in die Luft, ein zerbombter Kran hing quer ins Wasser. Wir schliefen auf Strohsäcken, hatten nichts zu essen, waren Fremde. Mit den Monaten kamen immer mehr Flüchtlinge aus der DDR, Geflüchtete aus den baltischen Ländern, aus Schlesien und Ostpreußen waren schon länger da. Die Einheimischen waren nicht begeistert von all den Fremden, die das Schwäbisch nicht verstanden und keine Ahnung hatten was Geselchtes und Gsälz war. Die meisten Schwaben mochten keine Flüchtlinge, gleich woher sie kamen. Alles ein Pack. Hungerleider. Und dieses Pack konnte nicht nur kein Schwäbisch, sondern war auch nicht katholisch. Protestanten, Alt-Lutheraner,  . Und dann waren da noch die französischen Soldaten und ihre Familien.
Das erste Weihnachten am See, in der ausgebombten Stadt Friedrichshafen, fand in der Schiffswerft neben der Drachenstation statt. Hafenarbeiter und Matrosen hatten einen Tannenbaum geschlagen, Kerzen gegossen, Sterne waren gebastelt worden. Der Mann, dem die großen Kieshaufen gehörte, brachte eine Krippe und stellte sie unter den Baum. Die Kinder, die Blockflöten hatten, mussten Weihnachtslieder üben. Ein Matrose verkleidete sich als Nikolaus, einer als Knecht Ruprecht. Der Schnee lag hoch und es war sehr kalt. Die kleinen Bolleröfen knatterten laut. Auf jedem stand eine Blechkanne mit Tee, Kaffee und Wein. Als es dunkel wurde, kamen immer mehr Menschen in die Werft, auch die drei Männer, die neben der Drachenstation in einer Baracke lebten und immer noch ihre gestreiften Lagerjacken trugen. Ein aus Afrika heimgekehrter Missionspfarrer las die Weihnachtsgeschichte, sprach ein Gebet und einen Segen. Alle sangen, die Kinder piepsten auf ihren Flöten. Dann verteilten die Einheimischen an die Flüchtlinge Brezeln und wir Kinder bekamen alle ein Weckle und einen Schübling. Zum Schluss gab es noch Geschenke, alle hatten sich eine Kleinigkeit überlegt: Die drei Männer hatten Walnüsse gesammelt und aus Kastanien kleine Figuren gebastelt, die Matrosen aus der Schweiz einen Block Schokolade mitgebracht und in kleine Stücke geschnitten. Meine Mutter verschenkte zwei Spitzenuntersetzer, und ich hatte vier Kartoffeln von einem Lokomotivführer, der seinen Garten hinter der Drachenstation hatte, erbettelt und jede in Papier gewickelt. Dann tobten wir Kinder durch die Werft und die Erwachsenen tranken Glühwein oder Tee und Kaffee mit einem Schuss Rum und redeten. Woher sie kamen, wo sie Unterschlupf gefunden hatten, wie es weitergehen sollte. Nicht alle wollten am Schwäbischen Meer bleiben. Manche wollten in die Schweiz oder in eine andere Zone, in ein anderes Bundesland zu Verwandten.
Friedrichshafen war eine sehr zerbombte Stadt. Die vier großen Rüstungsbetriebe Luftschiffbau Zeppelin, Maybach Motorenbau, die Zahnradfabrik und die Dornierwerke waren Ziel der Angriffe gewesen. Vierzehntausend ausländische Zwangsarbeiter und über tausend KZ-Häftlinge schufteten in diesen Werken. Bis April 1945 errichteten Häftlinge einen unterirdischen Stollen bei Überlingen, den Goldbacher Stollen, um die Rüstungsindustrie aus Friedrichshafen zu verlagern. Elf Luftangriffe gab es zwischen 1943 und Februar 1945. Nur der Mut des Bürgermeisters und vieler Einwohner verhinderte, dass die Stadt bis zum letzten Haus verteidigt wurde. Zum Kriegsende lebten nur noch siebendtausendsechshundertfünfzig Menschen in der Stadt. Bei Kriegsbeginn waren über fünfundzwanzigtausend gewesen. Die drei Männer aus der Baracke neben der Drachenstation waren Häftlinge gewesen, Ukrainer. Nach Hause wollten sie auf keinen Fall, nicht in die Hände der Russen fallen. Das hätte ihren Tod bedeutet.
Nicht ganz zerstört worden, war die Schlosskirche am anderen Ende der Uferpromenade. Ihre Zwiebeltürme waren immer in der Ferne zu sehen. Der Südturm war abgebrannt und der Dachstuhl schwer beschädigt. Mit Schweizer Hilfe wurde ein Notdach errichtet.
Die Schlosskirche war eine wunderschöne evangelische Barockkirche und so trafen sich am nächsten Weihnachten alle Geflüchteten dort wieder. Die Kinder mit ihren Flöten, ein kleiner Chor, der Pfarrer, die Fremden, denn die waren protestantisch, die Einheimischen katholisch. Von der Eriskirche in der Stadtmitte stand nur noch der Turm.
Als es am Heiligen Abend dunkel wurde, blieben die Katholiken in der Stadt, die Fremden bildeten zusammen mit den französischen Soldaten und ihren Familien einen Zug entlang der Uferpromenade. Immer weiter und vorbei an einem Hafen für Segelboote und noch weiter bis zur Schlossstraße. Entlang der Mauer, die die Kirche mit ihren vielen Eingängen umgab, zum Haupttor. Der Schnee lag hoch. Eisenbahner hatten Laternen mitgenommen und so war die Menschenkette am See von der Stadt aus zu sehen. Die Alpen, der Säntis, der See und davor der Lichterzug zur Schlosskirche. Wir Kinder rannten vom Schlosssteg zum Schlosshorn und weiter zu dem Pavillon Mon Plaisir und wieder zurück zu den Erwachsenen, die sich in der eiskalten Kirche um den Altar und den Tannenbaum und die Krippe drängten. Wir Kinder waren dick eingepackt und saßen unter dem Tannenbaum am Altar. Der Pfarrer erzählte den Fremden von der afrikanischen Fremde. Viel gesungen wurde in allen möglichen Sprachen. Die Weihnachtsbotschaft, die Flötentöne piepsten, der Segen und alle sangen Oh du Fröhliche. Dann durfte jedes Kind sich ein Päckchen unter dem Baum holen. Ein Apfel, eine Orange, ein Gebäckstück, ein bunter Schokoladenkringel. Alle umarmten einander, schüttelten Hände, wünschten sich Frohe Weihnachten, ein paar wenige sprachen Polnisch, Lettisch, Tschechisch oder Russisch. Gott segne euch, sagte der Pfarrer noch und gab auch jedem die Hand.
Nein, zurückgeholt werden konnte die verlorene Heimat nicht, nicht die Wörter  über das Elend, aber die Schlesier schenkten den Juden eine selbst gemachte Weißwurst. Eine baltische Familie musizierte. Wir lernten singen und neue Wörter. Die Franzosen verteilten warme Maronen und Marmelade. Der Pfarrer verschenkte Äpfel und Nüsse. Und es fanden sich immer mehr Worte. Gesten. Leben. Hilfe.
Dann wurden die Laternen wieder angezündet und der Zug wanderte an den zerbombten Ufermauern zurück in die Stadt. Ein paar Jahre lang fanden die Fremden an Heiligabend sich in diesem Gang zur Schlosskirche zusammen. Der Baum wurde prächtiger. Zu den Flöten kamen Geigen. Der Chor wurde größer und übte jeden Monat. Der Pfarrer wurde ordentlicher Gemeindepfarrer. Die Kirche wurde repariert und restauriert. Und die Flüchtlinge hatten sich auf verschiedene Weise in das Leben in eingefunden. Auch wir Kinder hatten uns zu neuen kleinen Rudeln sortiert.
Meine Mutter und ich wohnten inzwischen in der Eckenerstraße, neben dem Stellwerk und den Trajektgleisen. Inzwischen fuhren wieder Fähren in die Schweiz und Schiffe nach Lindau und Konstanz, Meersburg und Bregenz. Wir Kinder aus der Nachbarschaft tobten gemeinsam durch die Ruinen. Im Dezember 1953 lag der Schnee meterhoch. Niemand kam mit dem Schneeräumen hinterher. Die Berge wurden immer höher. Die wenigen Autos fuhren im Schritttempo. An Heiligabend fielen die Flocken immer dichter und schneller. Wir Kinder liefen durch die Stadt, immer weiter, bis zum Schlosssteg am Ende der langen Uferpromenade. Wir waren aufgeregt. Der Schnee, Weihnachten, vor dem Gang zur Kirche hatte Frau Beck ihren Kindern, Regina und Heinz, und mir Kakao und einen Wecken mit Wurst versprochen. Wir schrien und warfen mit Schneebällen, schmissen uns in einen Schneehaufen, gruben uns ein, jubelten: Die finden uns nie. Da saßen wir und waren glücklich, mit hochroten Köpfen, warm eingemummelt. Wir teilten einen Keks, den Regina vom Backblech ihrer Mutter gemopst hatte. Wir wurden stiller und müde, bald schauten nur noch unsere bunten Mützen aus dem Schneeberg. Die Dunkelheit ließ uns unsichtbar werden. Wir schliefen ein, wir waren verschwunden. Und die ganze Stadt suchte nach uns. Die Gottesdienste wurden verschoben. Polizisten, Feuerwehr und französische Soldaten suchten mit Laternen und langen Stöcken die Promenade und alle Straßen zur Promenade ab. Wäre nicht die Küsterin gewesen, die den Ofen in der Kirche heizte und durch den aufgeregten Pfarrer von der Suche erfuhr, die in immer größeren Kreisen zusammen mit ihrem Hund um die Schlosskirche nach uns suchte. Vom Badehaus, entlang der Wege bis zum Schlosshorn und Schlosssteg, dort stieß sie auf zwei französische Soldaten, die sich durch die riesigen Schneehaufen stocherten. Aber es war der Hund, der uns fand, bellte, kratzte, jaulte. Wir wurden halb erfroren wach. Die Soldaten zogen uns aus dem Schnee und trugen uns in die Kirche, dann liefen sie in die Stadt.
Wir saßen ins Decken gehüllt neben dem Ofen, tranken heißes Wasser, aßen Kekse und wussten nicht, wie uns geschah. Nach und nach kamen Menschen aus der Stadt zum Weihnachtsgottesdienst. Frau Beck setzte sich zu ihren Kindern und hielt sie fest in ihren Armen, obwohl Heinz schon zehn Jahre alt war. Für die Gemeinde waren wir das Weihnachtswunder. So laut und voller Freude wurde nie wieder O du Fröhliche gesungen.
All ich älter war, sang ich im Kirchenchor, saß gerne bei allen Gottesdiensten auf der Empore, aber unvergessen diese ersten Weihnachten am Bodensee, wenn wir zur Kirche liefen, sangen und die Erwachsenen miteinander redeten. Endlich gab es wieder Worte. Auch wenn die Sätze sich meist entlang der Fluchten und der verlorenen Heimat hangelten.

Wie schrieb Hilde Domin:
„Das eigene Wort,
wer holt es zurück,
das lebendige,
eben noch ungesprochene Wort?“

© J. Monika Walther
www.jmonikawalther.eu

Fluchtlinien: EBook und Taschenbuch

Wie Menschen unsichtbar wurden und die Notizen immer kleiner

Meran 1938 

Die Geräusche im Hotel. Geschirrklappern, Rufe, Türen. Lärm von der Straße. Geschrei. Nie Stille. Selbst nachts sind die schlurfenden Schritte, die Angst, das Gemurmel zu hören. Heinrich Heldt notiert. Tag für Tag. Auf der Flucht. Ende 1938. Er wird mehr Welt kennenlernen, als er wusste, dass es Welt und Länder gibt. Leipzig, Berlin, dann der Hamburger Hafen. Das war sein Weg. Heldt liebte die Schiffe auf dem Trockendock mehr als auf See. Er liebte das erste Gerüst, das für den Bau der Passagierdampfer gezimmert wurde. Er liebte die Reparaturen an den Frachtern. Das Hämmern und Schweißen. Das Klirren der Nieten. Den Geruch. Den Lärm. Und jeder Arbeiter wusste, was er tun musste, damit das Schiff zu Wasser kam. Ein Konzert der Geräusche. Kaum Befehle. Morgens um sechs besprach er sich mit allen. Schiffsbauer und Kaufmann Heldt. Kaffee, Brote. Fisch. Geräucherte Makrelen. Hering. Krabben. Er liebte die Gerüche. Ein winziges Büro hatte er. Mit den Zeichnungen. Den ellenlangen Tabellen, in denen sich die Kosten aufaddierten. Sobald es möglich wurde, verlegte er seinen Arbeitsplatz auf das Schiff. So war er zwischen den Welten. Nicht zu Land und nicht zu Wasser. Aber mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Zukunft. Ein neues Überseeschiff. Ein fahrtüchtiger Frachter. Das waren seine Träume. So lebte er gerne.  Er wollte einen guten Platz im Hamburger Hafen sich erarbeiten. Aber die Zeiten wurden so bedrückend wie die Gespräche in der Familie. Die Ersten verließen dieses Deutschland.
Er besorgte für seine Frau und die beiden Mädchen Pässe und Visen für England. Sehr früh. So früh, dass niemand Verdacht schöpfte. Ein Besuch in Liverpool. Bei einem Geschäftspartner der Reederei. Ohne großes Gepäck. Nur für eine Woche. Er kümmerte sich um Pässe für alle in der Familie, die wegwollten, aber das waren nicht viele. Die meisten wollten bleiben. Trotz der Schreierei im Radio, trotz der Hakenkreuze an der Wand. Und auch Heinrich wollte lange nicht weg, bis es fast zu spät war. Einer Verhaftung entging Heldt, weil er meist in der Werft schlief, in einem der Schiffe. Versteckt. Weil seine Leute ihn mochten, weil die HAPAG ihn brauchte.
In Meran duften die Apfelblüten. Heinrich Heldt notiert. Seit dem März 1938 ist die Einreise für Juden nach Tirol verboten. Nur die Durchreise ist erlaubt. Ich bin auf der Durchreise. Ich weiß nicht, wohin mit mir? Wieso habe ich kein Zuhause mehr?Heldt saß hier schon Wochen. In Meran. Ein Jude. Juden. Keine Deutschen, keine Österreicher. Juden. Meran als Zuflucht. Gerade noch über die Grenze geschafft. Er war kein Hamburger, nicht in Leipzig geboren. Er war Jude. Er wusste nicht genau, was ein Jude war. Er wusste, wie Schiffe gebaut wurden. Wie die Kosten zu berechnen waren. Und dass in der Familie am Freitagabend Schabbes gefeiert wurde. Aber alle hatten durcheinander geheiratet. Schönheit, Geld, Kultur. Protestanten und Juden, weil anderes wichtiger war. Nicht die Jüdischkeit, sondern die Pläne. Zukunft, Arbeit, Liebe. In den Familien wurden Chanukka und Weihnachten gefeiert. Alle aßen Schinken. Alle wollten es zu etwas bringen, sich beweisen. Sich engagieren für das, was sie taten und für gut hielten. Für den Kaiser, fürs Vaterland, für Ebert und die Republik, für die Sozialdemokraten, für Gerechtigkeit. Für gutes Essen. Manche waren konservativ, andere liberal. Einer war Monarchist, einer Kommunist. Aber Juden waren sie nicht. Sie waren Preußen, Schlesier, Deutsche, Berliner, Hamburger, und manchmal gingen sie in die Synagoge oder in die Kirche. Dem Mann, der Frau zuliebe.
Sah er anders aus? Nein. Dunkelbraune Haare, ein rundes Gesicht. Er trug einen gutsitzenden dunklen Anzug. Seine Nase war normal, mitten im Gesicht. Ein Jude. Zweiunddreißig Jahre alt. Ein Schiffsbauer. Und ein Kaufmann. Er war geflohen. Er schämte sich und wusste nicht wofür. Aber er schämte sich und wäre gerne für alle Zeiten unsichtbar geworden. Die Apfelblüten. Rosa und weiß. Duftend. Er wusste nicht, wie er sich versteckt als reisender Kaufmann verhalten sollte. Hinaus gehen oder im Zimmer bleiben. Lächeln oder unsichtbar bleiben. Er war untergetaucht. Sichtbar und musste unsichtbar bleiben. Der Schiffsbauer zwischen Bergen. Ohne Auftrag.
Tag für Tag kamen mehr und mehr Flüchtlinge aus Deutschland in Meran an. Heinrich Heldt begriff, dass er weiterreisen musste. Dass er in Meran, in Italien, nicht in Sicherheit war. Er war im festen Glauben gewesen, dass er versteckt in den Werften, bei den Schiffen, das Ende der Nazis erleben könnte. Er war dumm gewesen, so dumm wie einige in der Familie. Bis es fast zu spät war. Bis es zu spät war. Es war nicht damit getan, es über die deutsche Grenze zu schaffen, nach Polen, in die Niederlande, nach Frankreich. Er musste weiter flüchten, Italien verlassen. Er wollte keine Erklärung zu seiner Rassenzugehörigkeit auf dem Meraner Standesamt abgeben. Eine Woche wollte er noch so tun, als wäre er der Herr Heldt, der über das Passeiertal in die Alpen schaut, dann musste er seine Fahrkarten benutzen. Sich durchschlagen. In den Süden. Er musste das Land verlassen.
Der Wind trägt den Duft der Apfelblüten bis in mein Zimmer, notiert Heldt. Schaue ich aus meinem kleinen Fenster, liegt die Stadt wie gemalt unter mir. Eine Idylle mit Menschen voller Angst. Eingebettet in weißen und rosa Farbtönen. Die Dreitausender sind schneebedeckt, die Bäume blühen. Mittelmeerluft. Ein Obstgarten mit Flüchtenden. Oleander und Pinien, Feigenkakteen wachsen hier. Über mir Schloss Trauttmannsdorff. Rund um Meran liegen viele Dörfer, aber ich bekomme wenig zu sehen. Ich bleibe im Zimmer. Wenn ich ein bergsteigender Jude wäre, könnte ich nach oben fliehen. Ausgerechnet ich. Aber es gibt keine Leiter in den Himmel. Auch der ist abgesperrt. Nachts liege ich wach und denke mir Fluchten aus. Ich muss Meran verlassen. Ich muss weiter. Es kommt der Tag, da zeigen alle mit dem Finger auf mich. Der Jude da.
In der Nacht klopfte die Wirtin, holte ihn ins Erdgeschoss zum Telefon. Rauschen, als sollte er spüren, wie weit er von Hamburg und seinem Bruder entfernt war. Seine Frau Nelly war auf der Isle of Man gestorben. Lungenentzündung. Kinder versorgt. Pass auf dich auf. Es wird Krieg geben. Gute Reise. Heil Hitler. Heinrich Heldt setzte sich auf den nächsten Stuhl und weinte. Die Wirtin stellte ihm einen Liter Veltiner hin und eine Flasche Trester. Heinrich Heldt trank und weinte. Er aß noch einmal Knödel und Strudel, Polenta. Er überlegte, sich von einem der Berge hinabzustürzen. Er entschied, dass er dazu kein Talent hatte und seine Kinder von ihm etwas anderes erwarteten. Also verabschiedete er sich von der Wirtin, die ihm nicht nur versicherte, dass sie nichts gegen Juden hätte, sondern ihm auch ein ordentliches Vesperpaket mitgab.
Ich bin kein Jude. Ich komme aus Hamburg. Ich bin Schiffsbauer und Kaufmann, sagte Heldt und setzte seinen Hut auf. Die Wirtin lächelte. Dann ging er mit dem kleinen Koffer und der Aktentasche zum Bahnhof. Bis März 1939 waren die meisten der Juden aus Meran abgereist. Wer nicht untergetaucht war, wurde zur Zwangsarbeit gefangen genommen. Davon erfuhr Heldt erst nach dem Krieg. Er floh weiter und schrieb in immer kleinerer Schrift in sein Notizbuch. Immer schmaler und kleiner.

Leipzig 1940

Ich sehe: Wie die Frau einen Brief schreibt, sich vorstellt, dass es sie gibt dass sie lebt, fühlt, dass sie ein Gesicht hat und rote Haare, dass sie einen Namen hat. Ich sehe: Wie sie das Haus verlässt, dass es sie gibt, ein letztes Mal auf der Straße schlendernd, dass sie grüßt, kreuz und quer durch die Viertel geht, danach werden in der Stadt keine ihrer Art mehr gesehen, danach war Tod vor der Geburt.
Ich sehe: Wie sie verschwindet. Wie sie schweigt. Sie lebt und atmet leise. Sie friert in ihrem Herzen, denn ihre Eltern sind tot, Brüder und Schwestern irgendwo. Die Verwandtschaft hat sich in Juden und Arier aufgeteilt. Von einem Tag auf den nächsten sind fast alle aus der großen Familie in anderen Ländern verschwunden, entweder als Fliehende, Emigranten oder als Soldaten. Sie friert in ihrer Seele. Sie teilt sich auf. Die Unsichtbare, die kleine Rosa Frieda Marie, die im Schutz ihres Vaters, an den weißen Rosen zupft. Die junge Frau, die es nicht gibt. Eines will sie auf keinen Fall sein: eine Jüdin. Sie ist keine. Sie weiß es. Ihr Vater ist ein preußischer Soldat und Postbeamter, ein Monarchist, ihre Mutter besitzt das Haus, Äcker vor den Toren der Stadt, den Kolonialwarenladen. Sie stammt aus einer bekannten Leipziger Familie. Niemand ist ein Jude. Niemand hat je einen gelben Stern getragen.
Im Kriegswinter 1944 ist es überall kalt, sind die Pläne aller zerstört. Die der Faschisten und Soldaten genauso wie die der Millionen Toten und Gefangenen. Irgendwie überleben, irgendwie entkommen, irgendwie über den Nationalsozialismus siegen, irgendwie Hab und Gut retten, irgendwie doch noch ein Geschäft machen, nicht erwischt werden. Überleben. Verschweigen, wer man ist. Das ist Gesetz. Den Befehlen folgen. Befehlen muss man folgen. Davon wusste ich nichts. Davon will ich nichts mehr wissen. Ich habe niemanden und nichts gesehen. Nichts gelesen, nichts gehört. Es war eine gute Zeit. Ich weiß von nichts.Die unsichtbare Frau schlägt sich durch, von Versteck zu Versteck, unsichtbar geht sie durch Leipzig.
Ein Mann mit gefälschten Papieren liebt eine junge Frau, eine unsichtbare junge Frau. In Leipzig. Im Dezember 1944 werden beide verhaftet und nach Oranienburg transportiert. Eine Jüdin und ein Jude. Nach dem jüdischen Gesetz. Nach der deutschen Rassenarithmetik: eine halbe Jüdin und ein halber Jude. Die Frau überlebt, der Mann landet mit einem der letzten Transporte in Auschwitz. Ein Verrat war begangen worden. Von sichtbaren Menschen.  1945 wurde in Leipzig ein Kind geboren. Mit einem Mann als Vater, den es nicht gibt. 1945 ist Rosa Frieda Marie wieder zu Hause. Dreiundzwanzig Jahre alt. Ihre Familie ist tot oder in andere Länder geflüchtet. Die Stadt liegt in Trümmern. Das Haus in der Idastraße hat wenige Bombenschäden. Die Wohnung der Eltern ist leer. Die Mieter klingeln, bringen Geld und ihre Miethefte. Sie sagen: Die kleine Marie ist wieder da. Wo warst du denn? Die junge Frau schweigt. Sie will unsichtbar bleiben.

Fluchtlinien – Wie die Welt sich in Innen und Außen teilte. Roman von J. Monika Walther. 224 Seiten. 12,80 €

Vom Krieg und vom Frieden

Der Dreißigjährige Krieg dauerte von 1618 bis 1648. In den Jahren vor diesem Krieg gab es drei große Konflikträume: West- und Nordwesteuropa, Oberitalien und den Ostseeraum. Überall wurde um Vorherrschaft und Unabhängigkeit gestritten. In Europa und dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation hatte sich ein explosives Spannungsfeld aus politischen, dynastischen, konfessionellen und innenpolitischen Gegensätzen aufgebaut. Der Krieg begann als Religionskrieg und endete als Krieg um Grenzen, Besitz, Territorium, um nackte Macht in Europa. Eine ganze Reihe von weiteren Konflikten waren mit dem Dreißigjährigen Krieg eng verbunden und wurden ebenfalls bis aufs Blut ausgekämpft: da war der achtzigjährige Krieg zwischen den Niederlanden und Spanien von 1568 bis 1648; die Bündner Wirren zwischen den Koalitionen Frankreich-Venedig und Spanien-Österreich um den heutigen Kanton Graubünden; der Mantuanische Erbfolgekrieg zwischen Frankreich und Habsburg und der Französisch-Spanische Krieg, der bis 1659 dauerte.
Die Friedenversuche während der dreißig Jahre misslangen, erst mit den Westfälischen Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück von 1641 bis 1648 konnte der Krieg beendet werden. Fünf Jahre dauerte der Friedenskongress aller Kriegsparteien, auf dem fast alle großen europäischen Mächte vertreten waren. Die Beschlüsse des Westfälischen Friedens und die Ergänzungen im Nürnberger Exekutionstag wurden als Reichsgrundgesetz behandelt und im vollen Wortlaut in den Beschluss des Reichstages vom 17. Mai 1654 aufgenommen, genannt Jüngster Reichsabschied. Der Westfälische Friede war Namensgeber des  Westfälischen Systems und wurde zum Vorbild für spätere Friedenskonferenzen, da er dem Prinzip der Gleichberechtigung der Staaten, unabhängig von ihrer tatsächlichen Macht, zur Durchsetzung verhalf.
Am 24. Oktober 1648 endete der Krieg, dessen Feldzüge und Schlachten überwiegend auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches stattgefunden hatten. Die Kriegshandlungen und die durch sie verursachten Hungersnöte und Seuchen hatten ganze Landstriche verwüstet. In Teilen Süddeutschlands überlebte nur ein Drittel der Bevölkerung. Nach den wirtschaftlichen und sozialen Verheerungen brauchten einige der vom Krieg betroffenen Gebiete mehr als ein Jahrhundert, um sich von den Folgen des Krieges zu erholen. Das Trauma blieb im kollektiven Gedächtnis der Menschen.
In diesem endlosen Krieg, der sich durch ganz Europa hin und her zog, wurden schwerste und barbarische Verbrechen begangen. Eines der Schlimmsten war die ‚Magdeburger Hochzeit‘, der erste Versuch eine ganze Stadt, ein ganzes Gebiet vllständig auszulöschen. Der Begriff „magdeburgisieren“ ist als Synonym für „völlig zerstören, auslöschen“ und als Sinnbild für „größtmöglichen Schrecken“ in die deutsche Sprache eingegangen. Die Menschen wurden systematisch ausgeplündert, umgebracht, die Stadt zerstört.
Die langen und komplizierten Friedensverhandlungen zeigen, dass selbst nach dem letzten Schuss, der letzten Bombe ein Krieg nicht vorbei ist. Die Menschen hungern, frieren, sind traumatisiert. Die Menschen waren Mörder, Totschläger, Opfer. Die Menschen schweigen, lügen. Beendete Kriege verwandeln sich in eingefrorene, kalte Kriege. Die Friedenszeit dient als Vorbereitung für den nächsten Krieg, während der vorherige noch in den Seelen und Körpern tobt.
„Als wir Kriegskinder zwischen 1943 und 1948 auf die Welt kamen, zwischen die Trümmer und in die Kälte, den Hunger, waren die Erwachsenen sehr mit sich und dem, was sie angerichtet hatten beschäftigt. Sie schwiegen. Sie wussten genau, wer wie tief im braunen Dreck gewatet war. Wir Kinder liefen mit, hatten zu gehorchen, zu funktionieren. Still zu sein. Keine Fragen.
Als ich auf die Welt kam, war eine Kapitulation gewesen und begann alles, wovon ich erzählen kann. Die Zukunft war auf den Tag beschränkt. Auf die nächste aufgesparte Scheibe Brot, gebacken aus mehr Sägespane denn Mehl. Millimeterdünn geschnitten. In Kaffeesatz geröstet. Kartoffelschalen. Zu Brei verkocht. Graupen in Wasser.
Damals als die Welt voller Trümmer und Panzer war, als es nach Schwefel roch. Als es keine Farben gab. Damals als die Erwachsenen in den Trümmern ihres Lebens wühlten und schwiegen. Zwölf Jahre lang war nichts geschehen. Außer, dass so viele tot waren und das Land in Ruinen stand. Damals als wir Kinder keine Ahnung hatten, wonach diese Erwachsenen sich sehnten und was für Erinnerungen in ihren Köpfen geisterten. Wir Kinder verbrachten die Tage auf Schuttplätzen und Brachen, jagten Schmetterlinge, pflückten Hundeblumen und fochten mit Ästen gegen den Rest der Welt. Wir waren stundenlang selbstvergessen und in Spielen versunken. Taumelnd verloren, bis wir gerufen wurden und wir wieder vor diesen Erwachsenen mit ihren grauen Augen standen. Sie vermissten viel mehr als wir. Unzählige Dinge, eine andere Welt. Wir hatten keine Ahnung, was ihnen fehlte. Halt dich gerade, sitz gerade. Sprich nur, wenn du gefragt wirst. Was wussten sie schon vom Glück und vom Leben. Aber wir Kinder, wir begannen unser Leben zu erfinden. In unserer Fantasie waren wir voller Zukunft. Aber Tag für Tag verschwiegen wir unzählige Fragen.“
Krieg. Danach. ist der Titel meiner Erzählung in dem Buch ‚Vom Frieden‘. Für mich hörte der Krieg erst endgültig auf als ich über sechzig Jahre alt geworden war, als ich über die Familiengeschichte in den „Fluchtlinien“ (erscheinen im September 2023) geschrieben hatte und mit fast allen Lügen, dem Verschwiegenen, dem Falschen im Wahren und dem Wahren in den verkehrten Geschichten freundlich leben konnte. Ich wusste ja, wer ich war, was mich geprägt und was mich verbogen hatte. Der Krieg hört nicht mit dem letzten Schuss und einigen Unterschriften auf. Der Krieg geht noch lange weiter. Und ohne Krieg scheinen wir Menschen nicht leben zu wollen. Nicht im Kleinen, nicht im Großen. Immer wieder bauen wir einen Turm und reißen ihn ein und sei es, weil sich Menschen vor Veränderungen fürchten. So sehr, dass sie einen Krieg beginnen, der alles zerstört.

Die Glühbirne am Strand

Im langen Schriftstellerinnenleben gab es viele Zusammenarbeiten. Schon der Start mit achtzehn Jahren war eine Vorlage für Teamarbeit. Hans Magnus Enzensberger und der Südwestrundfunk luden mich in einen Jazzkeller nach Pforzheim ein. Der eine suchte Texte aus, eine Schauspielerin lass, Musiker spielten und ich durfte ein paar Antworten in ein Mikrophon sprechen. Hörspiele entstehen durch Zusammenarbeit und Diskussionen. Fast elf Jahre habe ich mit Vibeke von Saher gemeinsam Regien, Hörspiele und Feature entwickelt. Wir waren oft tagelang zusammen voller Intensität. Die Fotografin Barbara Dietl schickte mir ein Jahr lang jeden Monat eine Fotografie, ein Bild und ich schrieb dazu eine Geschichte: zu besichtigen und zu lesen in ‚Das Gewicht der Seele‘, herausgegeben von Iris Noelle-Hornkamp. Mit ihr gab es eine lebenslange Begleitung, durch die mir immer klarer wurde, welche jüdische Geschichte ich habe und was ich eigentlich in einer Art Puzzle erzähle.
Seit Bestehen schreibe ich für ‚Aus dem Alltag – Die Welt ist eine Laienbühne‘, herausgegeben von Manfred Lipp https://www.ausdemalltag.at/category/ausdemalltag/  kurze Prosastücke, Gedichte, zu denen Doris Lipp aus ihrem Schatz der Fotografien ein Bild auswählt. Inzwischen schreibe ich zu ausgesuchten Bildern von ihr Erzählungen. Wieder eine Zusammenarbeit. Zu der letzten Geschichte vom Weltenrand Bodensee (nach dem letzten Krieg, als viele Flüchtlinge in Oberschwaben gelandet waren) schickte sie mir eine Mail:

Liebe Jay,

Was für ein wunderbarer Text zu der Glühbirne am Strand! Er fließt und strömt und trifft ganz genau die Stimmungen quer durch die Lebensphasen. Ich habe mich beim Lesen gefragt, ob es vielleicht gar nicht so wichtig ist, in welcher Zeit und Umgebung wir aufwachsen  und leben. Ob man vielleicht in jedem Leben während der unterschiedlichen Phasen die selben Themen bearbeiten soll. Unbestritten gibt es schwierige Zeiten und einfachere in der Geschichte, aber vielleicht sind trotzdem die Grundthemen gleich. Ich fand mich völlig wieder in deiner Beschreibung der Kindheit, separiert von den Erwachsenen, in einer Phantasiewelt mit ganz anderen Prioritäten. Und dem Gefühl, so viel zu können, so viele Geheimnisse zu entdecken zu haben, so viel Zeit natürlich auch.
Und dann die Phase um die fünfzig, wenn sich die Reihen der älteren Familienmitglieder bedenklich lichten und man sich neu verorten muss im Gefüge der Übrigen.
Im Text verwoben mit den persönlichen Erfahrungen ist die Geschichte der Menschheit überhaupt, die ewigen Fragen und die ewig fehlenden Antworten. Der Krieg, ein Ereignis, das sich in der Vergangenheit abgespielt hat, unvorstellbar für die meisten, selbst davon betroffen zu sein. Davon kann jetzt keine Rede mehr sein. Die trügerische Ruhe ist vorbei, die Bedrohungen sind viele. Für uns optimistischen Kinder der 70-er und 80-er ein ganz neues Gefühl, das viele einfach wegschieben. Das neue Biedermeier ist entstanden, es wird um den heißen Brei herum geplaudert und „Alles gut?“ gerufen. Mehr eine Beschwörung, als eine Frage. © Doris Lipp
Solche Briefe, Mails oder Hinweise in Gesprächen sind etwas kostbares. Nicht wegen des ‚Lobes‘, sondern wegen der Spiegelung, der Fragen. Wegen der Glasbirne im Sand und den gefundenen Worten. Warum schreibe ich zu einer Glühbirne in der Sonne die Geschichte vom Weltenrand Bodensee nach dem letzten Krieg? Warum fotografiert Doris Lipp dieses Bild? Was ist geschehen?

Fotografien als Trennung

Alte Bilder zeigen, wie Landschaften früher aussahen, wie Menschen sich kleideten. Wie Häuser und Wohnungen eingerichtet waren. Wie Städte und Dörfer sich veränderten. Alte Bilder trennen uns von Menschen und Orten, die wir zu kennen glauben. Auf den Fotografien sind die Großeltern, die Tanten fremd. Ihre Kleidung, ihre Blicke und Gesten. Die eingenommen Haltungen erzählen von unbekannten Geschichten und Leben. Auch die eigenen Eltern sind nicht zu erkennen auf den ersten Blick.
Häuser, Menschen, ja selbst die Landschaften sind vereinnahmt von einer Geschichte der Moden, des Geschmacks, dem Stand der Landwirtschaft und Industrialisierung. Vom Stand eines Fortschritts, bei dem es um immer schöner, größer und mehr geht. Um Renditen. Mehrwert und Gewinne. Oder die Bilder und Gesichter sind geprägt von Krieg, Hunger und Fluchten. Von innerer Not. Oder: von der Erschöpfung der Moderne, von der seelischen und physischen Ausbeutung. Von sinnlosem Leben in Luxusjachten.
Geschichte nimmt Gestalt an, wenn man sie betrachtet. Und um sie zu betrachten und zu erfassen, muss man von ihr ausgeschlossen sein, schreibt Roland Barthes. Die Sache mit den Zeitzeugen sieht er kritisch. Sie können einen Aspekt, einen Eindruck, ihre Wahrnehmung beschreiben. Alle Berichte von Zeitzeuginnen, von Frauen, die erinnern oder Männern, die in einem Krieg vereinnahmt waren, ergeben noch nicht „die Geschichte“. Einen wahren Ablauf oder eine Chronik der Ereignisse.
Wir stecken immer mittendrin: Ein iranischer General wird durch den Befehl des amerikanischen Präsidenten getötet. Ermordet. Danach feuert der Iran Raketen in den Irak. Auf militärische Stützpunkte. Und auf ein Flugzeug mit hundertsechsundsiebzig Passagieren. All das wird berichtet, als wüsste irgendwer, was da vorgeht. In den Köpfen und auf Erden. Wer will was? Erdogan schickt Soldaten nach Libyen, ergreift Partei. Putin unterstützt den angreifenden Kriegsgeneral. Die beiden Herren, im Irak Partner, sind nun in Libyen Gegner. Auch davon wird stündlich alles berichtet, als wüsste irgendwer irgendetwas. Das war 2020. Wir wissen immer noch nicht genau, warum was damals geschah. So wenig wie wir heute wissen, wer mit wem über unsere Köpfe hinweg, was erreichen will. Oder warum Putin jetzt eine neue großrussische Diktatur um jeden Preis, um den Preis unendlich vieler Toter, errichten möchte. Er hätte sein riesiges Land in die Moderne führen können, aber er will der faschistische Herrscher über alle Slawen sein, ob die Menschen solche Slawen sind oder nicht. Falls die europäischen Länder nicht acht geben und zusammenhalten, werden sie bald auch zur Verhandlungssache, denn liberale Demokratien sind in Zeiten der Krisen nicht so beliebt, nicht einmal bei allen, die in diesen Demokratien leben und täglich nach Freiheit schreien. Auch ein Kontinent wie Afrika wird vor allem und immer noch mit gierigen Augen betrachtet: Wo ist Gewinn und Beute zu machen.
Jeden Tag ist auch der Klimawandel ein Thema. Gestern das Schmelzen der Gletscher, heute die Erwärmung der Ozeane, morgen das Sterben der Arten zu Wasser und zu Land. Und auch wenn immer wieder das Wort historisch in jeder Nachrichtensendung beschworen wird, nichts von alledem ist Geschichte. Richtig ist, dass Vieles von dem, was passiert, seine Gründe in der Geschichte des Neunzehnten- und Zwanzigsten Jahrhunderts hat. Und im unzivilisierten und dummen Wesen des Menschen. Im Wesen des gierigen Spätkapitalismus. Was jetzt geschieht, kann zu einem Teil der Geschichte sortiert werden, aber jetzt ist noch nichts Geschichte, geklärt oder wahr. Vielleicht reißen wir uns im Namen der Vernunft noch zusammen und retten die Erde, damit wir auf der Kugel alle miteinander leben können oder wir gehen in einem Katastrophenszenario unter. Die letzte Generation behält dann recht, aber davon hat niemand etwas. Die Reichen in ihren Bunkern auf Neufundland werden auch nicht ewig überleben. Auch das Münsterland hat eine gute Prognose: es wird nicht überschwemmt und nicht extrem heiß werden, nur angenehm wird es nicht mehr sein. Die Bilder, die entstehen werden, können keinem Menschen mehr gefallen.
In der Familie, in meiner eigenen Geschichte kann ich nur Bruchstücke zusammentragen. Ich kenne Leipzig vor Dreiunddreißig von Fotografien und Erzählungen. Gesehen habe ich als Kind meine Geburtsstadt in Trümmern nach dem Krieg, dann im Herbst 1961 nach dem Bau der Mauer und nach 1990. Über die alten Fotografien vom Augustusplatz, von der Idastraße, mit Großeltern und vielen Verwandten kann ich nur staunen. Alle Erzählungen zusammen ergeben nicht die Geschichte. Eher eine Art Labyrinth. In vielem finde ich Linien zu meinem Leben, aber ich kann kaum erahnen, wie sie lebten. Wie sie sich fühlten. Waren sie glücklich in den Gründerjahren, als alles gelang, als sie in Berlin und Leipzig angekommen waren und Neues aufbauten? Was ging in ihnen vor, als sie fliehen mussten? Ich bleibe getrennt von ihnen, auch wenn mein ganzer Tisch voll alter Bilder liegt. Sie wecken in mir eine Sehnsucht. Ich wäre gerne bei ihnen gewesen. Ich hätte gerne mehr von ihren Träumen gewusst. Ich würde gerne aus dem Labyrinth herausfinden.
Mehr weiß ich von einem anderen Land, von anderen Orten. Ich kenne Amsterdam, Haarlem und Zandvoort von kleinauf. Ich weiß um jede Veränderung an der Lauwerszee, in Dokkum und Ee – seit über fünfzig Jahren. Und bei fast jeder Fahrt von Hiddingsel nach Fryslân suche ich eine andere Strecke, andere Nebenstraßen und schaue, was verändert sich. Da sind erst die Bauernhöfe im Münsterland, von denen die meisten nicht überleben. Manche starten neu mit einer Gärtnerei oder freilaufenden Hühnern und Gänsen. Oder als Ferienhof. Natur zum Anfassen. Schlafen im Heu. Manche werden umgebaut, so dass Kinder und Enkel ein Zuhause haben.
Auch an der Autobahn A 31, hoch nach Groningen, verändert sich Vieles: Immer mehr Firmen siedeln sich an. Mit Wohnwagen, Traktoren, Gebrauchtwagen. Auf immer größeren Flächen. Speditionen. Die Moore im Emsland werden trockener. Groningen baut sich seit mehr als dreißig Jahren beständig um. Der Turm der Martinkerk ist zwar in dem städtischen Wirrwarr noch zu erkennen, aber der Stadtkern ist klein im Vergleichen zu den riesigen Flächen für Autobahnen, Industrie und Firmen. Unbebautes Land und die Landschaften werden selbst in Fryslân immer weniger. Neue Kanäle werden gezogen und Baugebiete ausgewiesen. Noch mehr Straßen. Die Betriebe legen sich in immer größeren Kreisen um die Städte und Gemeinden. So bleibt nur ein Rest Bauernland, das große Naturschutzgebiet an der Lauwerszee und die Dörfer, in denen gewohnt wird und die um ihr Überleben kämpfen, weil die Arbeitsplätze anderswo sind.
Jede Veränderung sehe ich und sei es, dass ein altes Haus, in dem früher eine Kneipe war, eingestürzt ist. Dass auf einem ehemals prächtiger Bauernhof langsam die Scheune und die Veranda zerfällt. Ich weiß, wie alles war und was es nicht mehr gibt, was neu ist, was wieder verschwindet, was versucht wird.
Ich weiß, wo früher der Käsehändler in Dokkum war. Einer der feinsten Läden, die ich je erlebte. Wie dieser Mann über seinen Käse sprach, als sei er keine Ware und müsste in großen Mengen an Touristen losgeschlagen werden. Und ich erinnere, wie er am Ende – Dokkum wurde in großem Stil umgebaut – seinen Laden aufgab. So traurig das Gesicht: „Diese Mieten kann ich nicht mehr bezahlen. Die Menschen kaufen im Supermarkt.“ Von den Supermärkten gab es immer mehr in Dokkum. Die kleinen Läden verschwanden leise. Irgendwann verschwand auch die alteingesessene Frieslandbank. Dann war auch der Fischhändler weg, der ein Fischer war. Er öffnete, wann er wollte, stand vor der Ladentür, rauchte und verteilte frisch gefangenen Matjes, wie es ihm Spaß machte.
Ich weiß, wie früher, in den Sechziger Jahren, noch Lastkähne anlegten. Wie sie verschwanden, wie immer mehr Anleger für die Segeljachten und Motorboote der Touristen entstanden. Wie die Touristen das Stadtbild bestimmten, wie nach und nach Kneipen verschwanden, wie Dokkum eine feine Stadt für die Besucher wurde. Am Diepswal sind heute Terrassen ins Wasser gebaut, die bewirtschaftet werden.
Ich weiß noch, dass früher selbst im kleinsten Haus eine Kaminumrandung eingebaut war. Auch wenn es keine Feuerstelle gab, sondern in der Vertiefung ein einfacher Ofen stand. In dem ehemaligen Knechtshaus in Ee war der Kaminsims und die Verkleidung bis zur Decke aus Holz sehr einfach gezimmert und angestrichen. Der schmale Ofen zog nie gut, hat aber viele Jahre das vom Strand gesammelte Holz verbrannt und die Stube gewärmt. Nach zwanzig Jahren und dem Einbau einer Heizung wurde der Vorbau abgeschlagen und ein Sofa nahm den Platz ein.
Schade war es darum, ebenso wie noch viel früher um die Schrankbetten der beiden Knechte. Daraus wurden eine Dusche und ein kleiner Arbeitsplatz. So geht das mit dem Fortschritt. Auch bei mir.
Die Geschichte hat manchmal komische Augenblicke und werden sie dann fotografiert, kann ein Lächeln entstehen aus der Trennung zwischen dem Wissen um Zeitenläufe, Moden und dem, was auf dem Bild geschieht. Denn Geschichte ist mehr als die Zeit, in der ich noch nicht auf der Welt war oder noch nicht die Welt wahrnahm. Die Fotografien schließen nicht nur aus, sie verbinden, wenn ich eine Linie ziehe zwischen dem, was ich sehe und dem, was ich weiß. Wenn ich die Trennung annehme und nichts besser wissen will.
Als in Dokkum der erste Selbstbedienungsladen eröffnet wurde, standen die Leute Schlange.
Wenn der Himmel sich in den Wellen und auf dem Meeresboden spiegelt, ist das Denken leichter. Meist aber ist der Himmel über mir gewölbt, dann bleibt das Denken anstrengend. Erfinden ist leichter, aber manchmal will ich das Denken aushalten und auch das Betrachten alter Fotografien, die die Grenzlinien aufzeigen.  (© J. Monika Walther)

Die schlimmsten Verbrechen geschehen aus dem Gefühl der unstillbaren Rache:

Stille Morde

Einen Groschen kostete eine Stunde Klavierunterricht nach dem letzten großen Krieg. Einen einzigen Groschen. Das kleine Mädchen besaß keinen dieser messingfarbenen Geldstücke. Nicht einmal einen Pfennig. Das kleine Mädchen war schon weit herumgekommen mit seinen sechs Jahren: Von Leipzig aus 1952 in ein Flüchtlingslager bei Moschendorf. Dorthin waren seine Mutter ohne Papiere und das kleine Mädchen ohne Papiere mit einem Zug quer durch die Tschechoslowakei gelangt. Das kleine Mädchen war durch den Zug gelaufen. Hin und her und hin und her. Die Mutter war an allen Haltestationen aus dem letzten Wagen ausgestiegen und hatte im Schnee gewartet, bis der Zug weiterfuhr. Aus dem Lager flüchteten sie dann weiter, ohne Papiere, weiter bis an den Bodensee. Nach Friedrichshafen. Die Schweiz ließ sie nicht ins Land, also blieben sie auf der anderen Seeseite, mit Blick nach Romanshorn und dem Säntis.
Das kleine Mädchen lief durch die Trümmer, zwischen den dürren Erwachsenen, zwischen den humpelnden Einbeinern und einarmigen Männern. Das kleine Mädchen lächelte für verschrumpelte Äpfel und Brotrinden und schwatzte alten Männern, die vesperten, einen schmalen Streifen geräucherten Speck ab. Das kleine Mädchen sah eines Tages hinter einem Fenster eine alte Frau. Die alte Frau war dreißig Jahre, blass und hatte ihre langen dunklen Haare als fest geflochtenen Zopf um ihr Gesicht gelegt. Das kleine Mädchen hörte Musik. Töne. Ein Klavier. An der Haustür stand auf einem Pappschild: Klavierunterricht. Zu allen Zeiten. Bitte klingeln bei Fräulein Musbach. Das Mädchen klingelte. Fräulein Musbach öffnete. Sie war groß und schlank, in einen Wickelrock gekleidet. Über dem Pullover trug sie eine Jacke aus einem Wehrmachtsmantel genäht. Die Hände steckten in Handschuhen, deren Finger abgeschnitten waren.„Ich möchte Klavierunterricht zu allen Zeiten“, sagte das Mädchen.
„Eine Stunde kostet einen Groschen“, erwiderte Fräulein Musbach. Ohne jedes Lächeln. Aber sie ließ das Mädchen für einen Augenblick in ihr Zimmer. Da stand ein Flügel, aufgeklappt. Bett, Schrank und Tisch waren an die Wände gerückt.
„Es ist zu kalt“, sagte die Klavierlehrerin und zeigte ihre Hände. „Es ist zu kalt für mich und das Instrument. Wenn du keinen Groschen hast, musst du wieder gehen.“ Das kleine Mädchen berührte eine Taste, ein sanftes D, dann ging es nach Hause und fragte seine Mutter nach einem Groschen.
„Nein“, sagte die Mutter.
„Warum Nein?“ fragte das Mädchen und bekam keine Antwort. Das Mädchen beobachtete seine Mutter und entdeckte, dass sie Geld beiseitelegte: „Für einen Schrank. Für einen Tisch. Für Stühle. Wir haben doch nichts mehr.“ Das Mädchen begann seine Mutter zu hassen. Das Mädchen ging jeden Tag zur Schule und war dort todunglücklich. Nach der Schule ging es einen langen Umweg an dem Haus der Klavierlehrerin vorbei, manchmal ging es auch nachmittags noch einmal an den zerborstenen Ufermauern entlang bis zu Fräulein Musbach und beobachtete sie durch das Fenster. Fräulein Musbach spielte immer Klavier. Einmal klingelte das Mädchen und gab der Klavierlehrerin ein gestohlenes Holzscheit. Dafür durfte es den Flügel betrachten und Fräulein Musbach zeigte ihr eine weiße Taste und sagte: „Das ist das C.“ Dann musste das Mädchen wieder gehen. Das Mädchen hasste seine Mutter noch mehr und begann zu träumen. Wenn es auf den Säntis schaute und vor sich hinträumte, war es weniger todunglücklich.
Eines Tages kam ein Onkel, der noch mehr herumgekommen war als das kleine Mädchen: Er war von Leipzig vor den Deutschen nach Burma geflüchtet und weiter nach Macau und dann 1945 mit einem Schiff zurückgefahren bis nach Hamburg. Das kleine Mädchen führte ihn am See entlang zu Fräulein Musbach und sagte: „Ich brauche sehr viele Groschen. Sehr viele!“ Der Onkel sprach mit der Klavierlehrerin. Er gab ihr viele Franken und er gab dem Mädchen einen Umschlag mit Scheinen: „Pass gut darauf auf. Das ist Dein Lebenskapital.“ Dann verschwand er mit einem Zug und schrieb Briefe aus Kanada, in die er Dollars legte, aber die kassierte die Mutter, obwohl die Briefe an das Mädchen waren.
Das kleine Mädchen erhielt nun Klavierunterricht zu allen Zeiten. Jeden Tag ging sie zu Fräulein Musbach. Eine Stunde Unterricht und eine Stunde Üben. Zwei Groschen, später fünfzig Pfennig, dann eine Mark. Da war das Mädchen nicht mehr so klein. Die Mutter hatte inzwischen einen Schrank, Tisch und Stühle gekauft. Betten, zwei Sessel, ein Radio; aber ein Klavier wollte die Mutter auf keinen Fall kaufen. Der Onkel griff noch einmal ein und ließ ein gebrauchtes Klavier anliefern, aber das half dem Mädchen nicht, weil die Mutter sich über den Klavierlärm beschwerte, das Üben verbot, Kopfschmerzen vorgab. Bei Fräulein Musbach konnte das Mädchen nicht mehr als die eine Stunde am Tag üben, weil die Klavierlehrerin selbst viele Stunden üben und spielen musste: Sie hatte die springenden Sekunden entdeckt. Sie gab kaum noch Unterricht. Sie wollte nur eines: In der Stille zwischen dem Anschlagen der Tasten verschwinden. Fräulein Musbach zeigte dem größer werdenden Mädchen immer und immer wieder, worin die Kunst und das Geheimnis der springenden Sekunden lagen. Sie sagte: „Nur diese Sekunden öffnen die Zeitfenster. Und nur durch diese Zeitlöcher sind die Vergangenheit und die Zukunft zu erreichen. Die springenden Sekunden sind die Fenster zu allen anderen Welten und Zeiten. Du kannst darin verschwinden und andere in dieser toten Zeit verschwinden lassen.“
Fräulein Musbach hatte das langsame Spiel an einem Kanon geübt, siebzehntes Jahrhundert, die linke Hand musste mit der Bassfigur das Tempo halten, achtundzwanzig Mal; die Rechte durcheilte die Melodien in Sechzehnteln, Vierteln oder Achteln. Legato Portato. Die linke Hand war das körpereigne Metronom. Sie übte Wochen und als sie eines Tages den ersten Ton, das D anschlug, das Pedal berührte, hörte sie den von ihr geschaffenen Ton für eine schleichende Sekunde lang, dann wurde es still. Am nächsten Tag übte Fräulein Musbach wieder und diesmal war es der Klang des großen A, der in der Zeitlücke verschwand. Sie hatte eine kaum fassbare Erfindung gemacht: Die toten Sekunden zerfielen in nicht definierbare Zeitpartikel. Für einen unkontrollierbaren Bruchteil setzte die Zeit aus.

Frau Musbach verlor sich in ihrem Spielen der stillen Himmelsaugenblicke. Sie wollte gar nicht mehr, dass ihr jemand zuhörte. Nachdem sie dem Mädchen gezeigt hatte, wie es üben musste, wollte die Klavierlehrerin nur noch alleine sein. Groschen, Markstücke, Scheine, alles Geld waren ihr egal. Das Mädchen fühlte sich ein zweites Mal verraten und verkauft. Es ging nach Hause, schloss sich mit dem Klavier ein und übte, bis sie die toten Sekunden so beherrschte, dass sie in ihnen verschwinden konnte. Sie liebte diese Stille, in der kein Mensch ihr etwas anhaben konnte. Sie war unerreichbar. Aber damit gab das Mädchen sich nicht zufrieden. Sie lockte ihre Mutter zum Klavier, versprach ihr hoch und heilig nur ein letztes Mal noch spielen zu wollen. Ein allerletztes Mal. Sie schlug ein tiefes Fis mit der linken Hand, nahm ihre verhasste Mutter rechts mit in die Zeitlücke hinein und ließ sie los. Weg war sie, verschwunden war die Mutter in der toten Sekunde. Das Mädchen hatte endlich einen Weg gefunden, mit dem Leben, das andere ihr vorsetzten, fertigzuwerden. Sie übte, sie lernte, sie wurde größer und gelegentlich verschwanden Menschen. Immer waren sie zuletzt bei dem Mädchen gewesen, das inzwischen eine junge Frau war, aber es gab keine Spuren. Auch Fräulein Musbach war weg.
Irgendwo, davon wusste aber niemand, gab es Zeitzimmer, in denen schrien einige der Verschwundenen vor Wut, weil sie nicht mehr in ihr Leben zurückkonnten. Fräulein Musbach weinte, weil sie nicht mehr Klavierspielen konnte.

© J. Monika Walther

In der Traumwäscherei …

Notiz Dezember 2022

Ein Schmetterling flattert durch den Palast
Die goldenen Türen schließen sich
Die Soldaten kichern
Die Gewehre fliegen kopfüber

Die Schmetterlinge fliegen über Trümmer
Kohlrüben Kohlweißling
Hundeblumen Zitronenfalter
Der Herrscher grinst und fährt davon.

© Jay M. Walther

… ist Arbeit

Geschichten von Menschen sind nicht entlang einer einzigen Idee, entlang einer aufgefundenen Chronik zu erzählen. Berichtete Lebensinhalte, dargestellt als die einzigen, sind zumeist nicht mehr als die gewünschten Abziehbilder, die ein Mensch hinterlassen möchte.
Geboren an ungewählten Orten, mit verlorenem Gleichgewicht in die Welt entlassen, wird die gestoppte Zeit zum Maß der Gefühle und der Enteignung des Eigensinns. Zu lernen ist die Akzeptanz der Verflochtenheit von biografischen Wirklichkeiten und Scheinrealitäten. Die Distanz zu sich und den Wörtern., die Entfremdung  ist vermittelt über die Erfundenen, die in der Traumwäscherei ihr Brot verdienen. Das Denkbare grenzt an das Undenkbare und die Sprache.
Die Grenzen meiner Sprache bedeuten aber nicht die Grenzen meiner Welt, nur die meiner Befremdung, und sie offenbaren die Größe Schreiben
© Jay M. Walther

Fluchtlinien – wie die Welt sich in Innen und Außen teilte

Claudia Marcy: 2023 erscheint „Fluchtlinien – Wie die Welt sich in Innen und Außen teilt“, in der Sie Ihre Familiengeschichte zum Thema machen. Wie kann man „Fluchtlinien“ beschreiben – als autofiktionalen Roman, in dem sich Autobiografie, historische Fakten und Fiktion durchdringen – vergleichbar mit den Texten der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux?
Begonnen hatte ich vor Jahren mit vierzig Seiten über meinen Geburtsort Leipzig, die ich atemlos geschrieben habe, aber wie weiter? Auf der Suche nach Wahrheit tauchen viele Legenden auf, kleine und große Geschichten, die nicht wahr sind und doch erzählen, was gewesen ist oder gewesen sein sollte. Eine Selbstbeschau sind die Fluchtlinien nicht. Nein, ich schreibe die Geschichte einer Familie, meiner jüdischen, schlesischen, preußischen Familie, die Wanderungen von Ost nach West, der schließlich gelungene Aufstieg während der Gründerzeit in Leipzig; ich schreibe diese Geschichte so wahr wie möglich, aber eben auch mit ihren Legenden, Lügen und all den schwarzen Flecken. Und da ich ja dazu gehöre, schreibe ich auch über mich. Meinen Weg vom Rand, vom Nichtwissen bis hin zum Begreifen, wie ich dazugehöre.
Claudia Marcy: Wer Ihre Romane, Essays, Gedichte und Texte kennt, weiß, dass Sie sich schon lange mit Ihrer Herkunft und Ihrer Herkunftsfamilie beschäftigen. Wann kam der Entschluss, tatsächlich den verschiedenen Familienlinien nachzugehen?
Das Thema hat mich lebenslang beschäftigt. Als Kind fragte ich und es gab keine Antworten. Dann gab es die Verwandten kreuz und quer in der Welt. Ich wurde in Züge gesetzt nach Haarlem, Boulogne-sur-Mer, Liverpool. Es gab Post aus Kanada und den Vereinigten Staaten. Tanten und Onkel erzählten dies und das, kleine Spuren wurden gelegt. Irgendwann bekam ich dann Notizbücher, meine schweigende Mutter hinterließ einiges, eine meiner Cousinen auch. Und ich musste mich um die Idastraße, das Haus der Großmutter in Leipzig kümmern.
Claudia Marcy: Wie muss man sich Ihre Arbeit vorstellen? Haben Sie in Archiven geforscht, Anfragen bei Behörden gestellt, in alten Akten und Dokumenten geblättert, Stammbäume von den verschiedenen Familienzweigen erstellt? Kontakte zu weit entfernt lebenden Familienmitgliedern aufgenommen? Stand für Sie von Anfang an fest, wessen Lebensgeschichte Sie verfolgen wollen, oder hat sich das im Laufe der Recherchen geändert?
Die mir aus der Familie übergebenen Dokumenten und Fotografien waren eine Grundlage, auch meine eigenen Notizen, viele Briefe, zahllose Ordner zum Leipziger Haus. Recherchieren musste ich natürlich einiges, aber viele Archive sind ja online zu benutzen. Selbst alte Militärakten ließen sich so finden. Oder die ganze Geschichte der Schriftgießerei Böttger in Leipzig oder dieder Äcker in Anger und Crottendorf vor den Toren der Stadt Leipzig, die von den Brüdern Wohlrath gekauft und bewirtschaftet wurden.
Claudia Marcy: Sind Sie zu Originalschauplätzen gereist? Hilft das bei der Recherche – schließlich haben sich die Menschen, die Häuser, die Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten verändert.
Bei den Reisen durch Polen, Litauen und Lettland, sei es wegen eines Stipendiums in Ventspils oder zur Schriftstellerin Helga M. Novak, habe ich immer Wege gesucht, um Familienorte wie Posen/Poznań, Hirschberg/Jelenia Góra oder den Landkreis Goldberg-Haynau kennen zu lernen. Dort ist noch Vieles so, wie es einmal war. Ich wollte fühlen, wie sie die Schneekoppe gesehen haben, welche Weg sie hatten.
Claudia Marcy: Haben Sie einige Überraschungen erlebt, als Sie sich mit Ihrer Familien beschäftigt haben? 
Die Überraschung kam am Ende des Buches, als ich endlich begriffen hatte, dass ich nicht irgendwo am Rand dieser jüdischen Familie stehe, sondern dass ich dazugehöre, auch wenn ich in Deutschland die Letzte bin, aber in den Vereinigten Staaten gibt es eine große Verwandtschaft. Auch wenn ich immer noch vieles nicht weiß, bin ich nun erwachsen. Und alle haben genug für mehrere Leben erlebt. Gefreut hat mich, dass meine Großmutter, die Kolonialwarenhändlerin, aus der Familie der Schriftgießerei Böttger kommt. Die Familie war ja so groß, weil die Großeltern vor ihrer Verbindung schon einmal verheiratet waren. Großmutters erster Mann fiel sofort im 1. Weltkrieg, Großvaters erste Frau starb an der Spanischen Grippe.
Claudia Marcy: Das Manuskript ist fertig. Was gibt es jetzt für Sie zu tun und was steht Neues an?
Im Augenblick bin ich beim zweiten Korrekturgang. Das Buch soll nächstes Jahr erscheinen. Zum Herbst hin. Und wie immer entsteht schon wieder etwas Neues, das gar nicht neu ist, denn ich wollte schon immer ein Tagebuch der unmöglichen Reisen schreiben.
( Dülmener Zeitung 30.11.2022,Gespräch zwischen der Journalistin Claudia Marcy und Jay M. Walther)

Von Köchinnen und Konsum

Wann soll eine Köchin lernen, die Staatsgeschäfte zu führen? Ein Leninzitat steckt hinter diesen Worten, das plakatiert in den sechziger und siebziger Jahren in vielen Wohnungen, Buchhandlungen und Frauenverlagen hing. In Deutschland. West. In ihrem Film Redupers funktioniert die Filmemacherin Helke Sander den Satz um. Sie fragt, woher soll eine Köchin die Zeit nehmen, Politik zu machen, wenn ihre Arbeit sie so erschöpft, dass es für sie zu einer Anstrengung wird, den nächsten Tag zu planen. Janis Joplin amerikanische Sängerin
Um die Köchinnen ist es den Genossinnen und Genossen damals nicht gegangen, auch wenn die Köchinnen Gegenstand mancher akademischen Abschlussarbeit wurden. Versteckt zwischen Marx und Feuerbachthesen. Auch heute interessiert sich kaum jemand für Köchinnen, außer sie besitzen Restaurants und treten im Fernsehen als Stars auf. Bei dem hoch gehandelten Hartzvier-Reförmchen, Chefgerangel von Damen und Herren der Politik, geht es weder um fünfhundert Euro noch um Köchinnen und deren Kinder, noch um eine Politik mit Sinn für Zukunft, sondern darum von einer Schandtat wegzukommen, einer öffentlichen Meinung zu genügen, ein bisschen so zu tun als ob, ohne soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die einen meinen es gut, die anderen haben eine Freude daran, die Armen gegen die Ärmsten zu hetzten und von denen wiederum glauben einige, ihnen würde etwas genommen, wenn die Ärmeren eine Scheibe Kinderwurst mehr bekämen. Die Republik bleibt ein Billiglohnland. Das Menschenbild vieler Politiker ist zu tiefst deprimierend und entspricht inzwischen jeder Kapitalismuskritik: Der Mensch wird geboren, um hart zu arbeiten, irgendwo in der Mitte der Gesellschaft, damit sie und er konsumieren können, was wiederum die Reichen etwas reicher macht und den Laden am laufen hält, aber wenig zur Lebensfreude beiträgt. Inzwischen geht es nicht einmal mehr um eine lebbare Zukunft auf dieser Erde, sondern nur um Ausbeutung von Mensch, Tier, Rohstoffen, Hauptsache Gewinn. Karl Marx war da noch geradezu vornehm in seiner Beschreibung. Und die Gier ist nicht zu stoppen.
Bis heute ist es den Meisten am liebsten, wenn die Köchinnen in den Küchen, wenn wir unter uns bleiben. Ein kleines Stück Sicherheit. Aber dieser Wunsch unter ihres- und seinesgleichen bleiben zu wollen, führt zu einem immer größer werdenden Verlust an Öffentlichkeit. Mangel an Zuständigsein, an Interesse. An Gemeinwesen. An Solidarität. An Plänen für die Zukunft jenseits der Gewinnmaximierung.
Bei Verlagen wird gejammert, weil die Köchinnen angeblich nicht lesen, die Auflagen sinken und die eingekauften Spitzentitel keinen interessieren. Sind ja auch meist Ramschware. Weder Spiegelungen der Wirklichkeit noch gesellschaftskritische Panoramen sind unter den Neuerscheinungen nahezu aller Verlage zu finden: Sie setzen auf Thriller und Schmöker. Und Selbstbespiegelungen, die selten in die Geschichte oder wenigstens Geschichten eingebettet sind, Die Literaturvorschauen sind voll von Nichtssagendem. Ein Wust an Unerheblichkeiten. Es soll unabhängige Buchhändler geben, die den Einkauf der Neuerscheinungen reduzieren und stattdessen Taschenbücher aus der Backlist bestellen, hoffentlich auch „Das Narrenschiff“ von Katherine Anne Porter. 2010 – neu übersetzt -wieder aufgelegt. Ein literarisches Ereignis, ein weiblicher Klassiker der Weltliteratur, ein wahrhaft wuchtiger Gesellschaftsroman, der in der Bundesrepublik der sechziger Jahre auf tief verstörte Ablehnung stieß.Wenn heute Filme, Bücher und Platten von Frauen auf den Bestsellerlisten stehen, wenn heute mehr Schriftstellerinnen Virginia Woolfs Wunsch und Rat begriffen haben, dass es keinen Arm gibt, auf den wir uns stützen können, dass wir allein gehen, dass wir uns an die Freiheit gewöhnen müssen und an den Mut, genau das zu schreiben, was wir denken, dann ist dies das Ergebnis jahrelanger Anstrengungen einzelner Frauen. Nein, Alice Schwarzer gehört da nur begrenzt dazu. Da wären viele, viele andere vorher zu nennen.Wo könnten sich Köchinnen und Schriftstellerinnen treffen? Im Modus des unbedingten Interessiertseins, des Zuständigseins für die eigene Wirklichkeit. Könnten!Wo könnten sich Köchinnen und Schriftstellerinnen treffen? Ja, auf einem „Narrenschiff“, oder: beim Trost der Dinge, sprich beim Einkaufen. Oder: Bei dem Versuch reicher zu werden: eine Zukunft zu haben, bei der jede Bürgerin eine Grundsicherung erhält, was faktisch bedeuten kann, Geld für Arbeit, die aber nicht 40 Stunden geleistet wird, sondern vielleicht 25. Dieses Einkommen stockt sich auf: Fundraising, Tausch, Freundschaft, Neugier, Gemeinschaft, Erfindergeist, selbständige Geschäfte. Ziel: Unabhängigkeit vom Staat (in Deutschland schwer sich auszudenken, bei der erdrückenden Allgegenwart und Rechthaberei staatlicher Verwaltungsbehörden). Die amerikanische Soziologin Juliet Schor: „Die Erschöpfung des Planeten ist für viele Bürger schwer zu ertragen. Es kommt darauf an, dass sie als Bürger wieder eine Erfahrung der Handlungsfähigkeit machen. Viele haben in der Konsumkultur das Lernen verlernt und die Fertigkeiten, sich selbst zu erhalten. Das ändert sich gerade, und die Erschütterung der Finanzkrise kann als Motor wirken.“
Der Zwänge sind zu viele geworden. Der Erschöpfungen. Autorinnen sind nicht dazu da, Autoren als Rolle zu geben, sondern Verantwortung zu übernehmen, Interessiertsein an unserer Gesellschaft, Zuständigsein.
Wir brauchen neuen Mut, um das zu schreiben, was wir denken und zu handeln, wie wir wollen. Und wir brauchen eine grundsätzliche Solidarität, sei es in einer Organisation oder in freien überschaubaren kollektiven Zusammenschlüssen. Denn ohne die Chance eines gemeinsamen Handelns werden wir auch das wenige verlieren, das wir noch haben. Die soziale und politische Stellung der Schriftstellerin und des Autors ist in diesem Land – in West wie Ost – äußerst gering geworden. Kompetenz wird uns kaum zuerkannt.
Der Wert eines Manuskriptes, eines Filmbildes, einer Phantasie, eines Computerprogramms liegt nicht in der Höhe der Auflage oder der Einschaltquote, in der Menge der Benutzerinnen, sondern im Original. Wirklich kreatives Handeln ist von Natur aus immer subversiv und ist deshalb in der Regel nicht gestattet. Es ist ein Akt der ständigen Erneuerung. Es ist eine Profession und eine Leidenschaft. Wenn wir mit dieser Profession leben und von ihr leben wollen, müssen wir mit Leidenschaft und sehr viel Wissen und Können für uns und unseren Beruf einstehen.
Für sein Eigenes einstehen. Das ist vor allem anderen die Aufgabe der Künstler und Schriftstellerinnen, vor dem ersten Wort, dem ersten Ton: Die Poetik des Suchens. Eine Bewegung, die keine Jahrhundertgrenzen, keine Zeitbarrieren kennt. Die Poetik des Suchens verharrt in keinem Beweisnotstand, muss sich nicht mit dem ersten Wort als modern, Teil der Vormoderne oder Antimoderne definieren, denn wir sind die Geschöpfe, die sich selbst beobachten, die nach einem Anfang und Ende je suchen. Und jedes Subjekt fängt als Kopie an und erschafft sich in dem Maße neu, indem es gelingt, die Kopie abzutragen. Wir wären ein Original, wenn nicht von Anfang so vieles festgelegt würde und bestimmt ist.
Die Poetik des Suchens beinhaltet äußerste Radikalität zu sich selbst, die Klarheit in der Phantasie und bedeutet auch, wo keine Aussicht ist, diese zu beschreiben, zu sagen, da ist keine Aussicht.
Die meisten Wissenschaften sind Ergebniswissenschaften, sind Wissenschaften, die Festgefahrenes sortieren und präsentieren, Prozesshaftes lassen sie selten zu, hinken mit Welterklärungen, mit statischen Modellen den jeweiligen Zeiten hinterher und die Insel Utopia bleibt unerreichbar. Dominanz und Allumfassendes hat in vielen Wissenschaften einen hohen Wert, dabei gibt es doch schon längst keine eindeutigen Kriterien mehr für die Beschreibung unserer Lebenssituationen. Kunst, Literatur ist eine der besten Möglichkeiten die Beschreibungen der vielen Schichten und Bewegungen zu retten, das Erinnern im Heute zu leisten. Und eine Zukunft zu entwerfen. Keine Kopien der Vergangenheit. Aber im Wissen der Geschichte.

© Jay M. Walther

Lesebuch Jay Monika Walther

Münster 1966

Mit dem Reifezeugnis im Koffer fuhr ich zwei Tage nach der Abschlussfeier in Heilbronn am Rhein entlang bis nach Münster. 1966. Ich stand mit meinem Koffer auf dem Domplatz und heulte. Mich trösteten die alten Kastanienbäume und das schöne Institut für Publizistik. Dort werde ich studieren. Ich brauchte ein Zimmer und Geld. Ich hörte Geschichte, Soziologie bei Luhmann, Philosophie, Psychologie. Lernte Statistik und Empirie. Schrieb Seminararbeiten zum Thema Hörspiel. Schrieb Filmkritiken für die Westfälischen Nachrichten und ergatterte eine kleine Stelle in der Bibliothek des Institutes. Ich wurde Mitglied der Roten Zelle. Wir besetzten das Institut. Dem damaligen Rektor, der nach dem Rechten sehen wollte, versperrte ich den Zugang: Sie haben hier nichts mehr zu sagen. Selbstverwaltung. Ich strich den Vorraum in Rot. Einige warfen Bücher vom Dach des Institutes in den Garten der Nonnen, einige wollten im Archiv Material zerstören, einige bauten vor die Tür von Professor Prakke, einem Niederländer, einen Stacheldrahtverhau. Dreimal stellte ich mich dagegen. Mit aller Heftigkeit. Der erste Riss in mir war da. Da nützen all diese nie endenden Versammlungen und Reden nichts. Ich schloss mich der Gruppe an, die im Institut kochte und aufräumte. Die Spaltungen begangen. Ja, ich sperrte eines Tages Dr. Lerg in seinem Büro ein, dann fiel mir ein, dass er seinen Hund bei sich hatte und schloss wieder auf. Später schrieben und arbeiteten wir zusammen über die »Werthaltungsanalyse publizistischer Aussagen«. Der Aufsatz hat bis heute
Bestand. 
Viele Demonstrationen. Eine bei Kiesingers Besuch in Münster. Ich hatte eine Tüte mit gemahlenem Pfeffer, mir gegenüber stand an der Tür zum Friedensaal ein älterer Polizist mit Schlagstock. Wir schauten uns in dem tobenden Geschrei und Gedränge an. Er sagte: Bitte nicht. Ich steckte die Tüte wieder ein. Er senkte den Stock. Herr Kiesinger gelangte zu seinem Krameramtsmahl. Faschist, Nazi, schrien Tausende. Sie hatten recht. Viele in diesem Nachkriegsdeutschland waren ehemalige Nazis, dachten und handelten reaktionär. Millionen ermordet, beraubt, aber kaum Verurteilungen. Alle schwiegen, alle hatten nichts gesehen
Unsere inzwischen kleine rote Zelle fuhr zweimal die Woche nachts zu den Faserwerken Hüls in Marl. Wir wollten, dass die Arbeiter rote Betriebsräte wählten. Es war Winter 1969. Ein Arbeiter sagte zu mir: Mädchen, du frierst ja. Ich spendiere dir einen Kaffee. Er erzählte von seiner Arbeit, seiner Familie. Ich dachte, wie komme ich dazu, so einem Menschen zu sagen, was er tun soll. Ich habe doch gar keine Ahnung. Ich war bürgerlich. Ich sollte mich um meine Dinge kümmern. In der bürgerlichen Wohnstube aufräumen.
Wenige Wochen später lösten wir unsere Zelle auf. Wir gründeten eine Buchhandlung. Ich baute mit anderen das erste Frauenzentrum in Münster auf. Ich las begierig. Jahre später gründete ich den Verlag Frauenpolitik. Ich kam bei all diesen Engagements immer an eine Grenze. Ich wurde kunterbunt beschimpft als faschistische Luxemburgistin, rechte Sozialistin, Anarchistin und begriff mit den Jahren, dass ich mit meiner Familiengeschichte immer eine Bürgerliche blieb, die inbrünstig sich wünschte, dass alle einander achteten. Ich habe meine Großeltern nicht erleben dürfen, aber manchmal dachte ich, es ist, als hätten sie mich erzogen. Auch Onkels und Tanten sagten: Respektiere die Arbeit und das Leben anderer. Mit dem Engagieren hörte ich nie auf, aber es gab immer eine ›Werthaltungsanalyse‹. Und die große Begeisterung für Freundlichkeit.