Das Sendgericht

Dreimal im Jahr findet in Münster die größte Kirmes der Region statt: Mit vielen Fahrgeschäften, dem traditionellen Pottmarkt und natürlich mit Imbissbuden aller Art. Von fettiger Krakauer bis zur vegetarischen Pilzpfanne und Zuckerwatte ist alles zu finden. Ja, auch Fischbrötchen, Pizza, Chinanudeln und Backfisch.
Auf dem Platz vor dem Schloss mitten in Münster findet der Send statt.  Die Geschichte des Schlossplatzes geht zurück bis ins späte Mittelalter, als es noch keine fürstbischöfliche Residenz gab: da war der Platz ein Feld vor der Stadtmauer, auf dem Händler und Wegelagerer ihren Geschäften nachgingen. Ins Stadtgebiet kam der Platz erst 1661, als Münster von Christoph Bernhard von Galen eingenommen, die westliche Stadtmauer abgetragen und eine Zitadelle errichtet worden war. Die Fläche des Schlossplatzes sollte als freies Schussfeld auf die Stadt dienen. Dieser Neuplatz wurde Teil des großen Generalplans des Baumeisters Johann Conrad Schlaun, der den Auftrag zum Bau eines Schlosses erhalten hatte.  Die Mittelachse sollte einen freien Blick auf das Schloss gewähren, Promenaden, Wäldchen und Bassins wurden geplant.
Nach dem Wiener Kongress 1815 gehörte Münster zum Königreich Preußen. Es begann die Industrielle Revolution und deshalb gab Überlegungen, einen Rhein-Weser-Ems-Kanal durch den Platz zu bauen. Aber der Neuplatz blieb unverändert und wurde weiter für Paraden und militärische Aufmärsche genutzt wurde. Die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 erfolgte vor dem Schloss. 1927 wurde der Platz in Hindenburgplatz umbenannt. Die NSDAP plante eine monumentale Umgestaltung des Stadtbildes, aber daraus wurde zum Glück nichts.
Gegen Ende des 2. Weltkrieges war Münster fast vollständig zerstört. Auch eine Art der Umgestaltung. Verursacht durch die hartnäckigen Kämpfe der Deutschen, der SS bis zur allerletzten Patrone, sonst wären die Alliierten einfach auf der B 51 vorgerückt. Auf dem Hindenburgplatz wurden in der Nachkriegszeit Schafe gehalten und Gemüse angepflanzt. Der Send, die Kirmes, fand auf dem Domplatz statt. Aus dem Hindenburgplatz wurde wieder der Schlossplatz.
Die Frage ist, ob wenigstens ein paar der vielen Sendbesucher wissen, dass Send ein Wort aus der kirchlichen Rechtsgeschichte ist. Vor dem Sendgericht, also vor einem kirchlichen Gericht, entstanden im 9. Jahrhundert, wurden von Geistlichen in Gegenwart der gräflichen Schultheißen, der Gemeindevorsteher, die Schandtaten, Sünden und Laster der Gemeindemitglieder behandelt, beurteilt und gerügt. Viele Anzeigen und Beschwerden galten dem Fluchen, den gotteslästerlichen Reden, dem unordentlichen Wesen, der Zecherei, dem Kartenspiel, den unehelichen Verhältnissen und Kindschaften und der Missachtung der Sonntagsruhe. Im Gegensatz zu heute durfte früher niemand Sonntags auf den Feldern arbeiten. Bestraft wurde mit von der Kanzel verkündeten Rügen und Ermahnungen, Aufforderung zu Almosengaben, seltener erfolgte die öffentliche Bloßstellung durch Umhängen des Schand- oder Lastersteins. Schwere Übeltaten, Vergehen und Verbrechen wurden als sogenannte Malefizsachen oder halsgerichtliche Straftaten nicht vom Send, sondern von obrigkeitlichen Gerichten geahndet.
Die Sendgewalt erlebte im späten Mittelalter ihre Blütezeit. Nach und nach verschwand die Ausübung. 
In Münster ist noch das Sendschwert am Rathaus zu sehen – als Zeichen des Marktrechtes der Stadt während des dreimal im Jahr stattfindenden Sendgerichtes. Während dieser Zeit galt in Münster ein besonders strenger Marktfriede, der jeden Bruch, der mit Blutvergießen verbunden war, bis 1578 mit dem Tode bestrafte. 
Die Todesstrafe ist zum Glück in Deutschland abgeschafft, die schweren Verbrechen, die während der Kirmes, der Sendtage, geschehen, werden mit Gefängnis bestraft, so ermordete ein Schausteller 2017 seine Freundin. Üblich sind Messerstechereien, Diebstähle aller Art, Schlägereien, Ruhestörungen und Betrügereien aller von Menschen ausgedachten Arten. Viele Menschen sind ja gierig. Und auch wenn Münster einer der Orte ist, an dem fünf Jahre lang der Westfälische Friede ausgehandelt wurde, der dann zwischen dem 15.  Mai und dem 24. Oktober 1648 in Münster und Osnabrück geschlossen wurde, und auch wenn Münster ein wenig am Rand der großen weiten Welt liegt, gibt es in der Stadt und im westfälischen Land darum herum genügend Morde und Totschlägereien. Zuletzt wurde Malte C., der zwei Frauen half, als sie von einem Mann angegriffen wurden, totgeschlagen (Christopher Street Day 2022). In den vielen Grachten und Kanälen schwimmen immer wieder Tote. Autos, Raubgut und Leichen tauchen wieder auf. Und auf den Schiffen wird quer durch Europa geschmuggelt, gestohlene Waren, Frauen, Drogen transportiert. Weder Gerichte noch kirchliche Ermahnungen halten die Menschen von diesem Tun ab.
(© Jay M. Walther)

Das Königreich Westphalen

„Die Wörter schlafen nicht in den Wörterbüchern/Sie ziehen um den Block, ziellos, spielen mit Munition.“ Mit diesen beiden Zeilen beginnt Durs Grünbein sein Gedicht „Vom Erlernen alter Vokabeln“. Ja, Wörter können Wirklichkeiten schaffen. In alle Richtungen. In Zeiten verschärfter Rhetorik können die Ewiggestrigen und Hartherzigen den Ton angeben, bis der Widerstand mit seiner Dialektik eine neue Wirklichkeit schafft.
Lebensgefährlich wird es, wenn die Inszenierung der Rechten, der Diktatoren so lange dauert, dass niemand mehr sich an die Grundregeln von Demokratie erinnert, niemand mehr andere Wörter im Ohr hat als das Geschrei.
Die Existenz des Königreichs Westfalen und der Einfluss der Franzosen auf Gebiete rund um dieses Königreich, auch auf das Münsterland, hatte auf Haltung und Sprache, auf die spätere politische Entwicklung eine besondere Bedeutung. Ursprünglich ging es darum, dass der jüngste Bruder Napoleons mit Land und Krone versorgt werden sollte. Also schuf Napoleon per Dekret vom 18. August 1807 auf preußischem Gebiet für Jérôme und Katharina das Königreich Westphalen. Ein Vasallenstaat, eine autoritäre Herrschaft, den Untertanen übergestülpt. Die eine Seite. Die andere Seite: Westphalen war als Musterstaat gedacht, mit einer modernen Justiz und Verwaltung. Und tatsächlich wurden die Patrimonialgerichte, die Steuerfreiheit des Adels und die Leibeigenschaft abgeschafft. Die Gewerbefreiheit, die Gewaltenteilung, die Gleichberechtigung der Juden, der Code civil sowie die Führung von Zivilstandsregistern und Kirchenbuchduplikaten wurden auf die vormals nicht-preußischen Gebiete ausgedehnt. Es gab viele neue Wörter und Zustände im ganzen Einflussbereich der Franzosen, die auch nach dem Ende des Königreiches 1813 nicht wieder beseitigt werden konnten. Als die alten Herrscher wieder in Besitz ihrer Landstriche und Güter kamen, ließen sich die Wörter und die damit gesetzten Freiheiten nicht einfangen. So wenig wie sich die Erfahrungen der Untertanen, die Widerstand gegen die Franzosen geleistet hatten, anullieren ließen.
Nach der Völkerschlacht in Leipzig 1813 löste sich das Königreich auf, aber die alte Ordnung war nicht mehr herzustellen und einige Wörter und Zustände waren nun den Untertanen, gleich wie sie eingestellt waren, bekannt. (J. Monika Walther)

Das Münsterland

 

 Annette Droste von Hülshof

Am Turme

Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,
Und lass gleich einer Mänade den Sturm
Mir wühlen im flatternden Haare
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

Und drunten seh ich am Strand, so frisch
Wie spielende Doggen, die Wellen
Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch
Und glänzende Flocken schnellen.
O, springen möcht ich hinein alsbald,
Recht in die tobende Meute,
Und jagen durch den korallenen Wald
Das Walross, die lustige Beute!

Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
So keck wie eine Standarte,
Seh auf und nieder den Kiel sich drehn

Von meiner luftigen Warte;
O, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff,
Das Steuerruder ergreifen
Und zischend über das brandende Riff
Wie eine Seemöwe streifen.

Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;

Nun muss ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!

(1841/42)

Blick vom Fürstenhäusle der Droste in Meersburg

 

 Annette Droste von Hülshof, geboren 10. Januar 1797 Schloss Hülshoff bei Münster – gestorben
am 11 Mai 1848 in Meersburg am Bodensee, dort ist sie auch begraben.